Rezensionen

Piano NEWS

Magazin für Klavier und Flügel, 2 / 2003  März / April

Es ist bemerkenswert, dass der in Kiew geborene Reinhold Glière (1875—1956) bislang so wenig von den Pianisten beachtet wurde, wo er doch so herrliche Musik für dieses Instrument komponierte. Mag es daran liegen, dass dieser Komponist, der drei Jahre in Berlin studierte, dann Direktor des Kiewer Konservatoriums war und später unter anderem Prokofieff, Majakowski und Chatschaturjan unterrichtete, während der Russischen Revolution als „dekadent“ galt? Oder sollte es daran liegen, dass er niemals der Neuerer in einer Zeit war, in der Skrjabin ein eigenes harmonisches System entwarf?

Wie dem auch sei, Glière hat herrliche Zyklen geschaffen, wie man beim Hören dieser CD unweigerlich eingestehen muss. Dabei erinnern einige der 25 Préludes aus dem Jahre 1907 in der zyklischen Anlage immer wieder auch an andere Komponisten, an Chopin, an Skrjabin und vielleicht auch an einige der romantischen Heroen, die für das Klavier schreiben. Und dennoch hat Glière mit seiner Verbindung von Neo­Romantizismus und russischer Volksweisen eigenständige Werke erschaffen, die es lohnt kennen zu lernen. Und der Engländer Anthony Goldstone weiß diese Werke herrlich detailgetreu und entsprechend den teilweise virtuosen Anforderungen umzusetzen.

Auf diese Weise werden die Préludes zu einem Statement des russischen Aufbruchs zwischen Romantik und Moderne, gemahnen die 3 Mazurken zu einem spritzigen Vergleich mit denen anderer Komponisten und stehen diesen in nichts nach. Vor allem aber die 12 kurzen, „Esquisses“ aus dem Jahre 1909 sind herrlich subtile Miniaturen, die den Einfallsreichtum dieses Komponisten widerspiegeln.

Eine CD, die man sich anhören sollte, will man seinen Horizont erweitern.

Carsten Dürer

mit freundlicher Genehmigung von Piano NEWS und Carsten Dürer


INTERNATIONAL PIANO

März/April, 2003

Ich habe es schon lange aufgegeben, von der Qualität der Musik von Komponisten überrascht zu sein, die außerhalb der Hauptströmung schreiben: einige der Figuren, die keine Chance gehabt haben, sind nichtsdestoweniger Meister. Was mir immer noch Freude verursacht, ist die Entdeckung, dass bei einem Komponisten, von dem ich dachte, ich hätte ihn richtig eingeschätzt, herauskommt, dass er ein wesentlich kreativeres Profil hat, als ich vermutet hatte. Es ist natürlich erfreulich, wenn das geschieht und man zugeben muss, dass man falsch gelegen hat, und ich bin froh, mich öffentlich bei Reinhold Glière entschuldigen zu müssen. Unter dem Einfluß der dritten Sinfonie (Ilya Mourametz), dem Konzert für Sopran und Orchester und anderer solcher sirupartiger Stücke, hatte ich gedacht, daß Glière (1875-1956) ein Mann von pathetischen spät-romantischen Gesten gewesen sei. Anthony Goldstones Aufnahme seiner 25 Préludes, op. 30, von 1907 (Olympia OCD 711) fordert eine Neu-Beurteilung. Arrangiert in Paaren von Dur- und Moll-Tonleitern, ansteigend in Halbtönen, sind die Préludes eine größere Entdeckung. Der Stil hat seinen Ursprung in Chopin, erreicht seinen tonalen Reichtum über Schumann und Brahms und einen Hinweis auf Scriabins chromatischer Nervosität; Goldstones ausgezeichnete Aufnahme weist auf andere Ähnlichkeiten hin, hier Fauré, dort Liszt, hier wieder Rachmaninoff. Die Klavierschrift ist ungeheuer virtuos, ohne auffällig zu sein, mächtig ohne die Melodie zu opfern. Der Satz dauert etwa 50 Minuten und liefert dem unternehmungslustigen Pianisten genügend Fleisch für einen pionierhaften Vortrag; Kirschen herauspickend liefert er dazu publikums-begeisternde Auswahlen. Goldstone fügt die drei Mazurkas, op 29 (1906) hinzu, die neckend geziert bis zu herrisch bestimmt erwachsen, und die zwölf Esquisses, op. 47 (1909) - einige überraschenderweise mit einem Hauch von Blues - und er spielt sie alle mit klangvoller Sicherheit, in dem best-aufgezeichneten Klavierton, den ich seit langer Zeit gehört habe. Eine hervorragende Ausgabe, heiß empfohlen.  

Martin Anderson

 

mit freundlicher Genehmigung von International Piano und Martin Anderson

(aus dem Englischen übersetzt: Jörg Schnadt)