Sergei Prokofjew und Reinhold Glier

Reinhold Glier hatte gerade seine Studien am Konservatorium in Moskau mit der höchsten Auszeichnung, einer Goldmedaille, abgeschlossen, da wurde er im Jahre 1902 von seinem Lehrer Sergei Taneev gebeten, den 11-jährigen Sergei Prokof'ev zu unterrichten. 

Eine sehr schöne Beschreibung hierüber findet sich in dem Buch "Prokofiev: His life and times" von Natalia Savkina (Paganiniana Publications Inc., New Jersey, USA, 1984, ISBN 0-86622-021-6).


Sergei Prokofjew

* 11.04.1891 (23.04.1891 neuer Kalender) in Sontsowka

+ 05.03.1953 in Moskau

Im Dezember 1901 ging die Familie Prokofjew wieder nach Moskau und St. Petersburg. Im Haus ihrer Freunde in Moskau trafen sie einen jungen Musiker, Yu. N. Pomerantzev. Er versprach sie bei seinem Lehrer Taneev einzuführen, der "der beste Professor in Moskau sei".

Der Professor lebte in einer bescheidenen Wohnung, die er einige Jahre später für eine ebenso bescheidene Wohnung tauschte. Wenn ihn zahlreiche Besucher, hauptsächlich angehende Komponisten und Schüler zu sehr nervten, hängte er an die vordere Tür ein Schild, auf dem stand: "S.I. Taneev ist krank und möchte niemanden sehen. Die Glocke funktioniert nicht".

Das waren seine Arbeitsstunden. Ein solches Schild gab es am 23. Januar 1902 nicht; Sergei Ivanovich wartete auf den kleinen Seryozha.

Die Möbel waren einfach, sogar spärlich; das alte großartige Klavier wurde von einer Öllampe beleuchtet. Mariya Grigorievna war nervös: "Es war etwas außerordentliches in der Luft, etwas unirdisches in diesem Zimmer; die Stapel von Noten und Büchern, die Einsamkeit, die Stille und sogar die gutmütige Stimme des Gastgebers schüchterte ein, als ob man einen Tempel betritt".

Taneev empfing den Jungen herzlich und lud ihn zu Schokolade ein. Es gibt mehrere Einträge in seinem Tagebuch: "etwa zwei Uhr, Yusha (Yu.N. Pomerantzev) kam zum Abendessen. Er brachte einen zehnjährigen Jungen mit, Seryozha Prokofjew, der außerordentlich begabt ist. Er spielte seine eigenen Kompositionen. Er hat ein absolutes Gehör, eine Kenntnis von Akkorden und Intervallen". 3. Februar: "Ich ging zu Yusha hinüber, um ihn aufzufordern, an den kleinen Seryozha Prokofjew eine Nachricht zu senden, dass ich ihn mit zu einer Probe nehmen kann."

4. Februar: " heute war die Probe meiner Symphonie mit den Streichern. Ich saß nahe bei dem kleinen Seryozha Prokofjew, um ihm alle die Details der Partitur zu erklären " 6. Februar: "Eine Probe meiner Symphonie mit dem vollständigen Orchester. Conussek Catoire, Yusha, die Sabaneyevs, der kleine Prokofjew, Eigess, Goldenweiser waren dort". 7. März: "um 1 Uhr, die Probe des Litvinov Konzertes (Peter Iljitsch Tchaikowsky's 2.Symphonie, Teil 1, Originalversion); Von dort ging ich zu Yushas Platz, um den kleinen Prokofjew auf Harmonie zu testen".

Reinhold Glier Sergei Ivanovich empfahl, einen professionellen Musiker einzustellen, der während des Sommers als Ausbilder für Seryozha in Sontzowka bleiben konnte. Es fand sich auch ein solcher Ausbilder, Reinhold Moritzevich Glier, ein junger Komponist, der das Konservatorium gerade mit einer Goldmedaille absolviert hatte.

Im Juni 1902 bereitete sich die ganze Familie aufgeregt vor, den Lehrer zu treffen. Glier hatte dickes schwarzes Haar, einen Schnurrbart und eine Geige in seinen Händen. Er war etwas gebeugt, sein Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck, aber die Augen unter den buschigen Augenbrauen, waren bereit, jeden Augenblick zu lächeln. Es gelang ihm, die Liebe des Jungen zu gewinnen, sogar seine altmodische Höflichkeit konnte nicht die Tatsache verbergen, dass er im Grunde genommen freundlich, einfach und herzlich war, gerade wie seine Musik war. Der junge Ausbilder war ein Mann weniger Worte, was aber kein Hindernis für ihre Freundschaft war; jedesmal wenn Hilfe oder Rat erforderlich war, er entpuppte er sich als eine großzügige und großmütige Person.

Glier nahm an vielen jugendlichen Spielen des Jungen teil und behandelte seine bis dahin unkomplizierten Theatervergnügungen sehr ernsthaft; im folgenden Sommer, Gliers zweitem Aufenthalt, arbeiteten sie zusammen begeistert an der Komposition Seryozha's dritter Oper, "Das Fest während der Pest".

Musikalische Formen und Harmonie erklärend, weckte Glier das Interesse und die Neugier seines Schülers. Die Methode mit den Grundlagen der Instrumentierung vertraut zu werden, war "malerisch genug": "Während wir morgens Klavier übten, würde er einen Übergang oder eine für ein Instrument charakteristische Melodie entdecken oder etwas anderes in einer Beethoven Sonate oder einem anderen Stück und dann einhalten, um mir dann zu erzählen, falls dieses Stück orchestriert würde, dieser stark-klingende Dreiklang von drei Posaunen gespielt würde, diese pastorale Melodie von einer Oboe und diese melodische mittlere Note einem Cello gegeben werden sollte". Sowohl der Schüler als auch der Lehrer liebten am meisten die Improvisation. Glier führte farbige virtuose Improvisationen zu Volksliedthemen aus, während Seryozha eigene Themen bevorzugte.

Glier führte eine nützliche Übung ein: die Aufgabe, jeden Monat ein kurzes Pianostück zu komponieren. Die Miniaturen wurden "Lieder" genannt und wurden normalerweise anlässlich kleinerer oder größerer Ferientage in der Familie komponiert. So sind viele von ihnen einer Person gewidmet: "gewidmet dem liebem Papa von S. Prokofjew, 28.3.1904 ", an "Tante Tanechka", an den "Paten". Er schrieb zwölf in einem Jahr, und von 1902 bis 1906 waren es dann 60. Es wurde Zeit, seine eigenen Arbeiten zu katalogisieren, ...



Brief der Mutter von Sergei Prokofjew an Sergei Taneev:
 
Sehr geehrter Sergei Ivanovich!

Vor kurzem hat Reinhold Moritzevich unser Haus verlassen und hinterließ die beste Erinnerung. Er ist als Ausbilder unersetzlich. Er hat so viel Takt und Geduld! Mit seinem Wissen und seiner Liebe zur Musik, konnte er Seryozha immer interessieren und ihn zur Komposition bewegen. Seryozha's Sommerkompositionen, geschrieben unter Reinhold Moritzevich's Aufsicht, sind sehr verschieden. Man kann fühlen, dass Seryozha auf dem richtigen Weg gesetzt worden ist. Für dies alles muss ich meine tiefste Dankbarkeit gegenüber Ihnen, sehr geehrter Sergei Ivanovich, ausdrücken. Mein Ehemann und Seryozha schließen sich mir an. Wir danken Ihnen alle sehr aufrichtig und mit unserer ganzen Seele. Dieses Jahr werde ich versuchen es zu arrangieren, dass wir, wie Sie geraten haben, zweimal nach Moskau kommen können, einen Monat vor Weihnachten und einen Monat danach; inzwischen sollten wir an uns selbst arbeiten, blind umhertastend.

Ich wünsche Ihnen das Beste und, mit der größten und tiefsten Achtung vor Ihnen,

mit freundlichen Grüßen

Marija Prokofjewa

"11. September 1902"
 

Natürlich gelang es ihr, einen Monat vor Weihnachten eine Reise nach Moskau zu arrangieren. Seryozha, der jetzt ein Jahr älter war, brachte im November Taneev sieben Lieder und eine Symphonie mit, die Krönung seiner kreativen Studien mit Glier im ersten Sommer. Es wurde zu vier Händen gespielt, "er und ich, Taneev bescheiden die linke Hand nehmend". Sergei Ivanovich lobte die Symphonie, bemerkte aber in seinem üblichen spöttischen Ton "Bravo, Bravo! Aber die Harmonie ist noch ziemlich primitiv. Besonders ... Ha, ha .... im ersten, vierten und im fünften Takt!" Der ehrgeizige Junge war tief getroffen und erinnerte sich ziemlich lange an das "ha ha". Prokofjew verband später, zumindest in Teilen, seine anschließenden Liebe zu Experimenten und Innovation auf dem Gebiet der Harmonie-Sprache mit diesem unvergeßlichen Besuch bei Taneev.

Autograph einer unter der Instruktion Reinhold Gliers entstandenen Sinfonie. Zugeschrieben (1945) "an Reinhold Moritzevitch am wundervollen Tag seines 70. Geburtstages, mit Erinnerung an unser erstes Treffen 1902".

Sergei Prokofjew mit Reinhold Glier (Mitte) und Dmitry Kabalevsky (links) 1945 in Ivanow



Stand: 30. November 2002